Motorrad-Marken

Benelli Tornado 650S


"Wirbelwind aus Pesaro"


Wird von kernigen Viertakt-Twins gesprochen, sind meist
englische Bikes von BSA, Triumph oder Norton gemeint.
Aber auch die Italiener kriegen so etwas gebacken.
Benelli wollte es mit der Tornado 650S sogar noch besser machen.
Ultrakurzhubig, ohne lästige Vibrationen, eben typisch italienisch.

Text: Winni Scheibe
Fotos: Scheibe, Werk



Gäbe es für motorradbegeisterte Länder eine Charts, Italien läge hier an der Spitze. Nirgendwo ist das Herz für schnelle Feuerstühle größer. Und das zieht sich quer durch die Bevölkerung. Angefangen bei den Herstellern über Konstrukteure, Techniker, Werksangehörige, Händlerschaft bis hin zum Kundenstamm. Aber auch die, die direkt mit Motorrädern nichts zu tun haben, kennen sich aus. Wissen, welche Modelle es gibt und was im Rennsport los ist. Die Italiener sind eben echte Motorradenthusiasten und Rennverrückte sind sie obendrein.



Eheleute Leibfritz auf "Testfahrt"

Und so darf es auch nicht weiter wundern, das die Azzurris schon seit jeher im Rennsport kräftig mitmischten. Das war bereits vor dem Zweiten Weltkrieg so, und als es ab 1949 die Straßenweltmeisterschaft gab, waren sie sofort ganz vorne mit dabei. Allen vorweg Mondial, Moto Guzzi, Gilera, Morini, MV Agusta, Ducati und natürlich Benelli.
Das Familienunternehmen Benelli in Pesaro baute bereits seit 1920 Motorräder. Zunächst waren es Einzylinder-Zweitakt-Leichtkraftmaschinen mit 75 und 98 ccm. Aber schon 1927 hatte man das erste, mit hochkarätiger Technik gespickte, 175er Einzylinder-Viertaktmotorrad fertig. Die obenliegende Nockenwelle wurde über Zahnräder angetrieben. Auf Anhieb erwies sich das neue Triebwerk als leistungsstark und standfest. Mit zehn Siegen legte Benelli hiermit den Grundstein für eine ruhmreiche Renngeschichte. Die Erfolge sorgten für einen guten Firmenruf, dienten natürlich auch der Werbung, und beschleunigten somit den Verkauf der sportlichen OHC-Einzylinder-Straßenmaschinen. Gekrönt wurde das Einzylinder-Engagement als Werksfahrer Dario Ambrosini 1950 die 250er Weltmeisterschaft gewinnen konnte. 


250er Vierzylinder-Werksrennmotor
(Foto: Werk)


Welch enormes Potential in der Rennabteilung steckte, bewiesen die Techniker, als sie Ende der fünfziger Jahre eine 250er DOHC-Vierzylinder-Viertakt-Rennmaschine bauten. Mitte der sechziger Jahre hatten die Ingenieure die Leistung bereits auf beachtliche 50 PS gesteigert. Einer der erfolgreichsten Fahrer wurde Renzo Pasolini, den 250er WM-Titel holte jedoch 1969 der Australier Kel Carruthers. 

Bereits Mitte der Sechziger hatte man sich bei Benelli überlegt, das Einzylinder-Straßenangebot durch eine großvolumige Mehrzylindermaschine zu erweitern. Das war schon deswegen wichtig, weil man mit "Cosmopolitan Motors" in Philadelphia/USA einen potentiellen Partner für den damals wichtigsten Exportmarkt hatte. In den USA war die Jugend schier motorradverrückt und es bestand eine riesige Nachfrage. Für die junge Bikergeneration waren das Maß der Dinge aber nicht leichtgewichtige sportliche Wetzhobel, so wie sie eben Benelli baute, sondern kernige englische 500er und 650er Twins vom Schlage einer Triumph, BSA oder Norton. Und von diesem Kuchen wollten sich die Italiener eine Scheibe abschneiden.


Prototyp von 1967
(Foto: Werk)

Was Benelli brauchte, war also keine hochtourige Vierzylinder-Sportmaschine, das technische Know-how hierfür war bei weitem vorhanden, sondern ein kerniges Männerbike. Eine Maschine im britischen Format, jedoch mit spritziger Motorcharakteristik, hoher Zuverlässigkeit und wartungsfreundlich dazu. Und das ließ sich nur durch eine simple Konstruktion, die als Kurzhuber ausgelegt war, erreichen. Außerdem versprach man sich von dieser Ausführung weniger nervige Motorvibrationen, für die ja bekanntlich englische Bikes berühmt, aber auch berüchtigt waren.



650er Parallel-Twin
(Foto: Werk)


Auf der Mailänder Motor Show im Herbst 1967 präsentierte Benelli den Prototyp. Das Motorrad war eine Wucht. Genau so wie man sich eine echte "Männermaschine" vorstellte: Als echter Parallel-Twin in atemberaubendem Design. Einige technischen Finessen ließen aufhorchen. Zum Beispiel das horizontal geteilte Motorgehäuse, in dem gleichzeitig das Fünfganggetriebe untergebracht war. Bemerkenswert war das unterquadratische Bohrung/Hub-Verhältnis von 84 x 58 mm, woraus sich exakt 642,8 ccm Hubraum ergab. Diese Auslegung versprach Drehfreudigkeit und trotz der Verwendung von nur einem Dell´Orto-Vergaser mit 30 mm Durchlass gab das Werk die Leistung mit stolzen 50 PS bei 7000/min an. Drehzahlfest lief die Kurbelwelle in vier Rollenlagern, Pleuelfüße und Kolbenbolzen hatte man in Nadellagern gelagert.

Stockkonservativ ging es dagegen beim Ventiltrieb zu. Vor dem Kurbeltrieb war die Nockenwelle platziert, die über Stoßstangen und Kipphebel je zwei Ventile pro Zylinder betätigten. Es lässt sich sicherlich unterstellen, dass Mitte der Sechziger die Benelli-Leute der Meinung waren, dass in dieser Hubraumklasse ein Motor mit einer oder sogar zwei obenliegenden Nockenwellen wohl kaum eine Marktchance hatte. Zumal bei den Bikern draußen auf der Straße, solche Bauarten alles andere als gefragt waren. Bestes Beispiel für diese Ablehnung war die erst vor kurzem erschienene Honda CB 450. Erfahrene Motorradfahrer aber auch anerkannte Fachleute schworen Stein und Bein, dass dieser hochgezüchtete DOHC- "Rennmotor" spätestens nach 10.000 km seinen Geist aufgeben würde, außerdem lehnten viele die verspielte Technik von vornherein ab. Vertrauen und Respekt gehörte den bewährten Twin-Konstruktionen aus good old England. Damit der neue Benelli Motor aber nicht als eine billige Kopie in Verruf kommen konnte, versprach man das 650er Bike mit einem elektrischen Anlasser auf den Markt zu bringen. Und auf diese Idee wären die Engländer natürlich nie im Leben gekommen.

 

Unverkennbar britisch war das Design. Doppelrohrrahmen, Tank-Sitzbankkombination, Hochlenker, Auspuffführung sowie Speichenräder mit Trommelbremsen hätten glattweg von BSA oder Triumph, oder was noch viel eher möglich gewesen wäre, von Rickman stammen können. Denn genau diese Art von Motorrädern baute Rickman, die sie Street-Métisse nannten. Nach Gerüchten sollen sich die Brüder Rickman tatsächlich verärgert bei Benelli in Pesaro über die verblüffende Ähnlichkeit mit ihren Maschinen beschwert haben. Ob es allerdings wirklich so war, wer weiß es. Fakt dagegen ist, nach der Mailänder Ausstellung wurde es zunächst rund drei Jahre still um das Projekt. 




Ende 1970 war die Benelli 650 Tornado, wie sie jetzt offiziell hieß, nun doch produkionsreif. Gegenüber dem Prototyp hatte sie jedoch etliche Pfunde zugelegt. Das Motorrad war in jeglicher Hinsicht fülliger geworden und mit rund 220 kg längst kein Leichtgewicht mehr. Vergleichbare Briten brachten weit unter 200 kg auf die Waage.




Abgesehen vom Motor und Rahmen- Layout war bei der Tornado eigentlich alles neu. Der bullige 12 Liter Tank, die langgestreckte Sitzbank sowie die Seitendeckel trugen deutlich italienische Handschrift. Ein echter Hingucker war die Bremsanlage. Im Vorderrad sorgte eine Doppel-Duplextrommelbremse mit 230 mm Durchmesser und hinten eine Simplex-Trommelbremse mit 200 mm Durchmesser für tadellose Bremsverzögerung. Auf die Stahlfelgen war vorn ein 3.50H18 und hinten ein 4.00H18 Pirelli Pneu montiert.




Die Sitzposition entsprach dem sogenannten klassischem Stil, der Fahrer saß aufrecht, "die Nase im Wind". Im Fahrbetrieb überzeugte sie durch gutes Handling, die Maschine lag sicher in der Hand. Leute, die allerdings Linksschaltung gewohnt waren, mussten sich auf die rechtsseitige Bedienung der Gangbox umstellen, ebenfalls gewöhnungsbedürftig war die Schaltreihenfolge. Der erste Gang wurde nämlich nach oben gezogen, alle weiteren vier Gänge nach unten geschaltet. Und fleißig schalten war fast schon ein Muss, der Motor lechzte regelrecht nach Drehzahl. Von wegen "Bollermann mit Dampf aus dem Keller", richtig Leben ins Gebälk kam erst über 4500/min. Das galt übrigens auch für die Motorvibrationen. Im Vergleich mit dem Geschüttele der englischen Ladys waren sie zwar recht harmlos, doch von einem seidenweichen Motorlauf konnte keine Rede sein. Das hatten die Benelli Techniker zum Glück rechtzeitig erkannt. So waren zum Beispiel Lenker, Tank, Instrumente, Scheinwerfer, Zündspulen, Batteriekasten, und Schalldämpfer in Gummi gelagert. 



Benelli-Experte Stefan Leibfritz

Doch ein dicker Viertakter ganz ohne Vibrationen wäre nie und nimmer ein echtes Männermotorrad gewesen. Das verlangte schon das Fahrervolk draußen auf dem Land. Ebenfalls zu einem echten Männermotorrad gehörte eben auch, das Triebwerk via Kickstarter anzuwerfen. Elektrischer Anlasser - Fehlanzeige. Wofür auch. Mit beherztem Tritt auf den Kickstarter brachte man den Wirbelwind schon zum Laufen. Und wer das nicht konnte, hatte in der Gilde der Windgesichter nichts zu suchen. Basta!

 

 

Als Benelli Mitte der sechziger Jahre den Parallel-Twin erst aufs Reißbrett und später auf den Markt brachte, war die Welt in der "heavy-metal"-Oberliga noch voll in Ordnung. Doch schon Anfang der Siebziger änderte sich das Bild nachhaltig. Honda hatte die CB750 Four, Yamaha die XS650, Suzuki die GT750 und Kawasaki die berühmt-berüchtigte Z900 "Z1" im Programm. Zwar gab es von der letzten und inzwischen einzigen englischen Marke Triumph noch die 650er Bonneville, bloß von der wollte kaum noch einer etwas wissen.

 

Ungeachtet des neuen Zeitgeistes ließ Benelli die Tornado weiterhin im Programm, spendierte ihr für 1972 aber etliche Neuerungen. Die gravierendste Modernisierung war der schon seit langem versprochene elektrische Anlasser. Da, wo bisher hinter dem Zylinderblock die Bosch Lichtmaschine über einen Keilriemen in Schwung gebracht wurde, saß jetzt der E-Starter. Die Lichtmaschine selbst war nun aufs Ende des linken Kurbelwellenzapfen gewandert, deutlich erkennbar ist dieser Umbau am linken Motorseitendeckel. Ebenfalls neu waren die Borrani-Hochschulterfelgen, die 230er Doppel-Simplex-Trommelbremse im Vorderrad und die neu abgestimmten Schalldämpfer. Neben einer anderen Farbgebung war der eckige Tank nun gefällig rundlicher geworden.


Der Anlasser startet über eine Kette den Motor
(Foto: Werk)

 

Trotz erhöhter Verdichtung von 9:1 auf 9,6:1 gab das Werk die Motorleistung jetzt nur noch mit 45 PS bei 6500/min an. Benelli-Kenner Stefan Leibfritz hat zu den Leistungsangaben eine eigene Meinung: "Die Tornado wurde bei uns immer per Einzelabnahme vom TÜV abgenommen und da hat man die italienische Leistungsangabe sicherlich einfach nur am Schreibtisch in DIN-PS umgerechnet. Beide Modelle, die mit 50 PS aus der ersten Serie, sowie die zweite Serie mit 45 PS, haben auf meinem Prüfstand immer zwischen 47 bis 48 PS gebracht. Bis auf eine Ausnahme, dem Sondermodell Tornado 650 S2. Die von 1972 bis 1976 gebaute Sportausführung hatte man mit einem lenkerfesten Windschild, Sportsitzbank und schwarzen Motorseitendeckel veredelt. Der überarbeitete Motor brachte tatsächlich etwas über 50 PS", verrät der Italospezialist aus Balingen.




Auf dem deutschen Markt erlangte die Tornado, die bis 1976 angeboten wurde, keine besondere Bedeutung. Import und Vertrieb war nie klar strukturiert. Mal war es Fritz Alexander aus Neustadt am Rübenberg, mal die WESDA–Handelsgesellschaft in Lintorf bei Düsseldorf, die sich der Sache annahmen. Tornado Fahrer waren vielfach auf das Engagement ihres Händlers angewiesen. Der, wie es bei den anderen italienischen Marken ebenfalls vielfach üblich war, Fahrzeug, Zubehör und Teilenachschub in Eigenregie organisierte. 
Wer heute eine Tornado fährt, ist kaum besser dran. Nur noch wenige Spezialisten kennen sich mit dem Modell aus, können Gebrauchtfahrzeuge besorgen und kümmern sich um die Ersatzteilversorgung. "Selbst der italienische Markt ist inzwischen fast leergefegt", verrät Stefan Leibfritz. "Lackteile und etliche Bauteile sind kaum noch neu zu bekommen." 

Einen Vorteil hat die Sache allerdings. Genau wie Anfang der Siebziger, als die Tornado im "japanischen Allerlei" als Exote zweifellos einen berechtigten Platz hatte, ist der seltene Vogel auch heute weiterhin eine Ausnahmeerscheinung. Zwar verfügt der "Knurrhahn", wie er vor knapp dreißig Jahren gern genannt wurde, nicht über den legendären "Dampf aus dem Keller" wie es für englische Parallel-Twins Standard war, dafür ist die Mechanik zuverlässig und langlebig. Das Triebwerk ist öldicht und Drehzahlen schaden dem Motor auch nicht. Und dann ist da noch der Sound, so klingen eben nur Parallel-Twins, und den versteht jeder, sogar auf italienisch.


Technische Daten
Benelli Tornado 650S
Modelljahr 1973


Motor:
Luftgekühlter Paralleltwin-Viertaktmotor, eine untenliegende Nockenwelle, Stoßstangen, Kipphebel, zwei Ventile pro Brennraum, 
Hubraum:
642,8 ccm
Bohrung x Hub: 84 x 58 mm
Verdichtung: 9,6:1

PS bei U/min
: 45 bei 6500
Zündung: Kontaktgesteuerte Batterie-Spulenzündanlage 12 Volt
Schmierung: Nasssumpf-Druckumlaufschmierung, Ölinhalt 2,6 Liter, SAE 20W50

Antrieb:
Primärantrieb über schrägverzahnte Zahnräder, Mehrscheibenkupplung im Ölbad, Fünfganggetriebe, Sekundärantrieb über Kette

Fahrwerk: Doppelrohrrahmen, hydraulisch gedämpfte Telegabel, Zweiarmschwinge mit zwei hydraulisch gedämpften Federbeinen; Radstand 1460 mm

Bremsen: Vorn Doppelsimplex-Trommelbremse, Ø 230 mm
hinten Trommelbremse, Ø 200 mm
Reifen: Vorn 3.50H18, hinten 4.00 H 18

Leergewicht: 220 kg

Spitze: 170 km/h

Preis 1973:
6295 DM

PS: Dieser Bericht stammt aus der Zeit, als die DM noch gängige Währung war



Mit freundlicher Unterstützung von Italospezialist Moto Stefano in Balingen



Text-Archiv: Benelli

Bild-Archiv: Benelli Tornado 650S


Home