Harley-Davidson Modelle

Ein Bericht von 1996

200.000 km mit einer Harley-Davidson Electra Glide "Liberty"

"Meilen-Zähler"

Eine Harley-Davidson ist Kult und Mythos zugleich.
Sie ist aber auch eine Fahrmaschine.
Ein HD-Fan aus Stuttgart  hat mit seiner
Electra Glide "Liberty" in zehn Jahren
"fünf Mal den Globus" umrundet. Problemlos versteht sich!

Text&Fotos: Winni Scheibe



Z
weitakter oder Viertakter? Lederkombi oder Textilanzug? Halbschale oder Integralhelm? Harley-Davidson oder ein richtiges Motorrad? Für Jürgen Felke keine Frage. Mit seinen Boxer-BMWs hat der Stuttgarter über 100.000 km abgespult. Problemlos versteht sich! Eigentlich wäre er auch für immer bei den "Blauweißen" geblieben. Warum sollte man sich auch unbedingt was Neues kaufen? Eine BMW ist solide, haltbar und hat Tradition. Und Tradition verpflichtet, je älter, um so besser. Doch plötzlich kam der Gesinnungswandel. Aber nicht ein neues Motorrad stand da plötzlich vor der Tür, sondern ein "Mythos". Bei Harley ist das jedenfalls so. Amerikas älteste und einzige Motorradschmiede verkauft nämlich keine Bikes, sondern "Mythos", die Maschine bekommt man sozusagen gratis dazu. So sagt es jedenfalls Willie G. Davidson, Enkel des Firmengründers, und der muss es ja schließlich wissen. Und da alle Welt ausgerechnet auf diesen "Mythos" scharf ist, ist seit Jahren Harley-Davidson, lange bevor die Saison überhaupt losgeht, ausverkauft. Das war allerdings nicht immer so.




Anfang der achtziger Jahre stand es bei Harley-Davidson mit der Qualität längst nicht zum Besten. Von vielen wurden die Bikes aus Milwaukee ketzerisch als "amerikanischer Kernschrott" abgetan. Ein Ruf, der sich nachhaltig auf den Verkauf auswirkte. Und es war nicht das erste Mal, dass man mit diesem Problem zu kämpfen hatte. 1968 wurden lediglich 26.000 Maschinen gefertigt, damals stand das Familienunternehmen kurz vor dem Ruin. Als "Retter in der Not" trat 1967 der Mischkonzern AMF auf den Plan und kaufte das Unternehmen. Zwar war nun die Weiterproduktion gesichert, auch investierte AMF erhebliche Gelder in die marode Traditionsmarke, doch rückblickend dürfen die nachfolgenden Jahre als schwarzer Fleck in der Harley-Geschichte betrachtet werden. Fehler im Management, Streiks, Lieferschwierigkeiten und schlechte Verarbeitung ließen in kürzester Zeit den guten Namen von Harley-Davidson verblassen. Im Frühjahr 1981 ließen die ehemaligen Harley-Davidson Besitzer und einige Firmenmanager in einer gemeinsamen Presseerklärung die Fachwelt von einem geplanten Rückkauf wissen. Und tatsächlich. Wenige Monate später wurde der Deal perfekt. Mit professionellem Management brachten sie die Firma nachhaltig auf Vordermann. Mitverantwortlich war zweifellos die neue "Evolutions-Generation", die ab 1984 auf den Markt kam. "Getarnt" im alten Outfit war die Technik nun up-to-date. Insider behaupten sogar, sie sei so gut wie "japanisch". Die neuen Harleys fuhren sich mit Vollgas in die Herzen der Fans, und was daraus geworden ist, sehen wir ja heute...
Ein weiterer Marketing-Gag waren Sondermodelle. 1986 war es die FLHTC Electra Glide Classic "Liberty". Und genau so etwas stand damals taufrisch bei Jürgen Felke vor der Tür. Allerdings sehr zum Leidwesen der "Bemweh", denn die verstaubte fortan in der Garage. Eigentlich war der überzeugte Boxerfan mit seinen 29 Lenzen überhaupt kein Harley-Typ, und schon gar nicht für so einen dicken Highway-Dampfer. Das hatte sich aber bereits nach der ersten Ausfahrt grundlegend geändert und ab sofort war die Harley-Gemeinde um ein treues Mitglied reicher. Reicher wurden in den nächsten Wochen und Monate auch diverse Zubehörhändler. Für rund 10.000 Mark veredelte der stolze Besitzer die Importware, und dann ging's auf Tour. Was nun folgte, wäre sicherlich ein guter Stoff für ein Motorradbuch. Aber nicht wie jetzt gleich einige denken werden mit reißerischen Geschichten über einen frustrierten Harley-Fahrer, ne, ne, es würde ein Buch über einen überaus zufriedenen und glücklichen Biker, der mit seiner "Liberty" in zehn Jahren nicht nur 200.000 Kilometer zurückgelegt hatte, sondern der auch kreuz und quer durch Europa gefahren war und dabei die tollsten Erlebnisse hatte. Und da wir davon Wind bekamen, lag nichts näher, als sich umgehend mit dem Marathon-Biker zu verabreden. Ein Buch wollten wir zwar nicht schreiben, aber uns interessierte brennend, wie das Evo-Triebwerk diese Laufleistung verkraftet hatte. Auch bei Harley-Davidson Deutschland in Mörfelden war man neugierig, und so waren sich alle Seiten schnell darüber einig, dass man diese Maschine gründlich untersuchen sollte. Diese Aufgabe übernahm HD-Techniker Rolf Fuchs.




Zunächst wurde der optische Zustand in Augenschein genommen. "Da braucht ihr nicht lange suchen, die Kratzer sind alle echt, schließlich habe ich mit dem Bike zehn Jahre verbracht," ließ Jürgen Felke gleich wissen. "Vom Putzen und Polieren halt ich net viel, ich bin mehr fürs Fahren. Richtig gewaschen hab ich die Harley maximal einmal im Jahr und Schönheitsreparaturen lehn` ich grundsätzlich ab". So gesehen macht sie einen guten Eindruck, und wenn man wollte, ließe sich mit etwas Politur nachhelfen... Entscheidend für das relativ gute Bild ist die Tatsache, dass Felke mit dem Dampfhammer nie über salzgestreute Straßen gefahren war. Alu- und Chromteilen sah man das Alter nicht an. Nur die hintere Scheibenbremse fiel beim genaueren Hinsehen auf: Rost. "Is´ alles noch original, Bremsscheibe und sogar die Bremsklötze, denn wer bremst schon hinten," betont Felke. Dass er weiß, wie man richtig bremst, wollte der Hobby-Endurofahrer allerdings erwähnt haben, nur sei die "Liberty" allerdings kein Wetzhobel, mit der man ständig auf der letzten Rille in die Eisen steigt. Eine exakte Aufstellung, wieviel Paar Bremsbeläge, wieviele Reifen und wieviel Benzin er innerhalb der 200.000 Kilometer verschlissen und vertankt hat, gibt es leider nicht. Schließlich konnte vor zehn Jahren keiner ahnen, dass ausgerechnet sein Bike als "HD-Dauertestmaschine" mal interessant werden würde. "Aber auch ohne diese Aufzeichnungen kann ich ziemlich genau sagen, was in der Zeit abgegangen ist", erzählt Jürgen Felke. "Knapp 3000 Kilometer habe ich die Maschine eingefahren, alle Wartungen und Inspektionen wurden bei X-Cycles in Stuttgart gemacht. Der Hinterradreifen hielt im Schnitt 10.000 und der vordere Pneu 15.000 Kilometer. Es waren immer Dunlop Elite-II Reifen. Die vorderen Bremsbeläge wurden alle 20.000 Kilometer erneuert. Je nach Fahrweise verbrauchte die Harley zwischen 5,5 und 8 Liter bleifreien Kraftstoff."




Alle Reparaturen und Defekte lassen sich an einer Hand abzählen. Das erste Problem war ein eingerissenes Ansauggummi. Dieses Malheur passierte während einer Schweden-Tour, Tacho-Stand 21.000 km. Es war aber weiter nicht tragisch, denn eine Harley-Werkstatt konnte helfen. Die nächste Panne erlebte er in Südfrankreich, als ein vorderes Radlager nach 110.000 Kilometern seinen Geist aufgab. Aber auch hier war eine Motorradwerkstatt hilfsbereit. 10.000 km weiter kam es zum ersten und einzigen richtigen Defekt, die Getriebehauptwelle war ausgeschlagen. Die letzte größere Reparatur war bei 150.000 km fällig, als das rechte Standrohr erneuert werden musste. Und dann sei noch zu erwähnen, dass ab 100.000 km der Ölverbrauch langsam aber sicher ständig anstieg. Zum Schluss, also bei 200.000 km auf der Uhr, lag er bei Landstraßenfahrerei bei etwa einem Liter und auf der Autobahn bei gut zwei Liter pro 1000 km. Während der gesamten Fahrzeit wurde ausschließlich handelsübliches Mehrbereichsöl verwendet. Dass während der gesamten Betriebszeit nicht mehr kaputt gegangen ist, schreibt Jürgen Felke seinem defensiven und materialschonenden Fahrstil zu. "Die ersten 20 Kilometer fahre ich das Triebwerk grundsätzlich behutsam warm und dann drehe ich den Motor nie über 4000 Touren", verrät er sein Geheimnis. "Den größten Spaß macht es zwischen 1500 und 3500 Touren zu fahren. Das sind auf der Bahn maximal 130-140 Sachen und damit kommt man auch ganz gut vorwärts."




Dass es so ist, beweisen die Ausflugsziele. Ob Nordkap, England, Schottland, Isle of Man, Frankreich, Spanien, Portugal, Gibraltar, Italien und Griechenland sowie den halben Ostblock hat er mit seiner "Liberty" erkundet. Dazu hat er noch alle Alpenpässe abgefahren, ganz gleich ob asphaltiert oder als Schotterpiste. Von den 200.000 Kilometern saß zur Hälfte seine Lebensgefährtin mit auf der Sitzbank, den Rest hat er solo abgespult. Meist mit Campingausrüstung, ins Hotel ging's nur im "Notfall". Während er das erzählte, war die Harley bereits halb zerlegt. Die erste positive Überraschung war der Primärantrieb. "Wie neu", beurteilte Rolf Fuchs den Kettentrieb. Um den Motorblock leichter aus dem Fahrgestell zu hieven, demontierte der HD-Schrauber zunächst alle Bauteile "drumherum". Wenig später lag der Motor in seinen Bestandteilen auf der Werkbank. Bereits vom Ansehen machten die Sachen einen guten Eindruck. Lediglich die Brennräume und Ventilteller waren mit Ölkohle verkrustet, was eindeutig vom hohen Ölverbrauch stammte. Ans Eingemachte ging beim Vermessen (siehe Kasten: Zahlen und Fakten). Kaputt war im Prinzip nichts. Nur die Nockenwelle wies am Lagerzapfen Verschleißspuren auf und die Kolben sowie Kolbenringe waren ebenfalls verschliessen. Richtig gut zeigten sich dagegen die Zylinderlaufbahn und die Kurbelwellen- und Pleuellagerung. Auch der Kupplung und dem Getriebe konnte man die Strapazen nicht ansehen. Die Fahrwerkslagerung, Steuerkopf-, Schwingen- und Radlager waren tadellos in Schuss.



Fazit:
In zehn Jahren 200.000 Kilometer mit einer Harley, das ist ein Wort. Interessant ist die Sache deswegen, weil die Strecke von einem Fahrer abgespult wurde, der die Wartungs- und Inspektionsarbeiten der Werkstatt überließ und sich selbst nur mit dem Fahren und den Routineschecks beschäftigt hatte.


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