Motorrad-Marken


MV Agusta GP-Rennmaschinen-Sammlung von Robert Iannucci

Der Boxer, der ein 180-Grad-V-Vierzylindermotor war!

Ein eher spontaner Besuch beim "Team Obsolete" in New York wurde
Anfang 1994 für Winni Scheibe zum journalistischen Highlight. In der
Team- Werkstatt in Brooklyn präsentierten sich neben der sensationellen
Honda RC164 überraschend 350er und 500er MV Agusta GP-Werksrenner
sowie ein MV-GP-Prototyp für die Königs-Klasse. Diesem außergewöhnlichen
Renntriebwerk hat Martin Kott in dem "Jahresrückblick MV Agusta Club Deutschland e.V. 2009" einen Artikel gewidmet. Ein Bericht von Winni Scheibe und Martin Kott.

Text: Winni Scheibe, Martin Kott
Fotos: Winni Scheibe, Bernd Fischer, Werk


Robert Iannucci, Ralph Bohnhorst, Nobby Clark

MV Agusta Werksrenner mit 500er Vierzylindermotor.
Robert "Rob" Iannucci, Ralph "Bohni" Bohnhorst, Nobby Clark


MV-Agusta "Pseudoboxer" für die 500er WM


Erinnerungen an 1994 von Winni Scheibe


Eine ganz wichtige Quelle für uns Journalisten sind Insider-Informanten. Sie berichten über Dinge, die man nie oder kaum erfahren würde. Manchmal bekommt man aber auch aus dem Freudeskreis heiße Tipps gesteckt. Ende 1993 erzählten mir Stephan Elisat, in der Szene als Doc-E. bekannt, von einem gewissen Robert "Rob" Iannucci in New York. Rob besäße die erste 250er Sechszylinder-Honda RC164 Werksmaschine. Mit dieser Wunderwaffe sollte damals Jim Redman noch in letzter Minute im Herbst 1964 für Honda den 250er WM-Titel erobern. Und weil der New Yorker Rennstallbesitzer diesen einmaligen GP-Racer in seinem Team Obsolete bei Oldtimer-Veranstaltungen rund um die Welt demnächst einsetzen wollte, hätte er keinen geringeren als den legendären Rennmechaniker Nobby Clark aus Südafrika für die Instandsetzung angeheuert.


Robert Iannucci und Nobby Clark

Restauration der 250er Honda RC164

Honda RC164


Nun ist New York nicht gerade um die Ecke, und auf gut Glück reist eigentlich keiner mal eben in die USA. Doch dann ging alles Schlag auf Schlag. Kurz vor Weihnachten 1993 fragte mich Ralph "Bohni" Bohnhorst, ein Freund von Doc-E., Ex-Gespannrennfahrer und Ducati-Händler in Braunschweig, ob ich ihn zum Ducati-Tuner Eraldo Ferracci nach Philadelphia in Pennsylvania begleiten möchte. Bei dieser Gelegenheit könnten wir auch das Team Obsolete in New York besuchen, machte Bohni mir die Reise schmackhaft. Das klang verlockend. Als Rob Iannucci mir auf meine Anfrage via Fax mitteilte, dass er sich auf unseren Besuch freue, organisierte ich noch auf die Schnelle einen Besuch im Harley-Davidson Werk in York/Pennsylvania. Schließlich sollte sich die 14tägige USA-Reise für mich journalistisch rundherum lohnen.

 

Es war an einem Samstagnachmittag, Ende Januar 1994. In Rob Iannuccis Racing-Werkstatt, irgendwo in einem Hinterhof von Brooklyn/New York, herrschte Hochbetrieb. Einer seiner Leute rangierte mit einem Gabelstapler Kisten in die Halle. Rob begrüßte uns wie alte Freunde, bot uns Kaffee an und zeigte auf die zum Teil
schon ausgeräumten Verschläge in seiner  Werkstatt: "Endlich sind sie da, meine MV-Schätze."




 




Was wir nun erleben durften, sollte sich fest ins Gedächtnis einbrennen. Der Team-Chef führte uns durch seine geheiligten Hallen. Sie waren vollgestopft mit Ersatzteilen, Werkzeugen, Motoren und Ex-Werksrennmotorrädern von BSA, Triumph, Matchless, Norton, Honda, Harley-Davidson, Ducati, Benelli, AJS und seit Neuestem eben auch von MV Agusta. Er stellte uns Nobby Clark vor, der mit der Restauration der Honda RC164 beschäftigt war. Dann deutete Rob auf den Motor mitten im Raum und guckte uns fragend an, so als wolle er uns testen, ob wir wissen, was das wohl für ein Triebwerk sei. Bohni und ich lachen und wir antworten fast wie aus einem Mund: "Das ist der MV-GP-Boxer-Motor."


Der Boxer, der ein 180-Grad-V-Vierzylindermotor war!
Rückblick 1976 - Ausblick 2012...?
Von Martin Kott



So wie ihn die Fans über Jahre kannten und verehrten.
"Ago" auf der fast unschlagbaren MV Agusta


Nürburgring, 29. August 1976, Großer Preis von Deutschland. Giacomo "Ago" Agostini nagelte mit seiner 500er Vierzylinder-MV Werksmaschine in der ersten fliegenden Runde eine 9.01.10 Zeit auf den Asphalt der Nordschleife und lag damit schon neun Sekunden vor Teuvo "Teppi" Länsivuori auf der schnellen Square Four RG500 Suzuki. Diesen Vorsprung baute er bis in die dritte Runde auf 14 Sekunden aus. Es fing nun immer heftiger an zu regnen und keiner der etablierten Partizipanten konnte ihm auf der wunderschön brüllenden Viertakt-MV folgen. Nach sieben Runden überquerte "Ago" als Sieger mit einem Vorsprung von fast einer Minute die Ziellinie vor Marco Lucchinelli auf Suzuki. Pat Hennen wurde ebenfalls auf Suzuki Dritter. Das war der 270. Grand-Prix-Sieg und damit auch der letzte einer MV Agusta.



Rückfällig!
1975 würde Giacomo Agostini mit der Yamaha-Werksrennmaschine 500er Weltmeister.
1976 startete er beim Nürburgring GP noch mal für MV Agusta und siegte.
Weltmeister in der Königs-Klasse wurde 1976 jedoch Barry Sheene auf Suzuki



Der große Rivale von Ago:
Phil Read 1973 und 1974 Weltmeister auf der 500er MV Agusta


Barry "Bazz" Sheene wurde in der Saison 1976 auf seiner - ihr ahnt es schon - Suzuki RG500XR 14 (XR = eXperimental Racer 14=Einsatzzeit 1974 - 1977 Square Four
4 x Drehschieber 7-port Cylinder ca. 100 bhp) Weltmeister in der "Königs-Klasse". Er verzichtete auf einen Start auf der Nordschleife, da er schon genügend WM-Punkte gesammelt hatte. "Bazz" lehnte aus Sicherheitsgründen Rennen auf Strecken wie der Isle of Man und eben auch der Nordschleife ab. Beachtenswert: Er hat als Brite an keinem Manx-Grand-Prix auf der Isle of Man bei der "TT" teilgenommen. Ich persönlich hatte zweimal das große Vergnügen, ihn in privater Atmosphäre zu treffen. Er war für mich einer der größten Racer aller Zeiten und in Verbindung mit seinem Vater Frank Sheene als Mechaniker ein Meilenstein in der Geschichte des GP-Sports. Er überlebte grausame Unfälle (Daytona) und starb letztlich am
10. März 2003 an einer heimtückischen Krankheit.


Barry Sheene
 500er Weltmeister 1976 und 1977 auf Suzuki


MV Agusta zog sich Anfang 1977 vom werksunterstützten GP-Motorradrennsport zurück. Hauptursache war wohl die Tatsache, dass sowohl die italienische Regierung, die nun die Aktienmehrheit der Firma hielt, nicht mehr bereit war, den Rennsport zu finanzieren. Und Graf Corrado Agusta, der nicht so Motorrad-rennverrückt war wie sein verstorbener Bruder Domenico, wollte die benötigten Mittel nicht länger aus dem Privatvermögen finanzieren.

Dies war - betrachtet man einmal die Situation in der Rennabteilung in Cascina Costa - sehr schade, denn bereits 1975 tat sich dort Erstaunliches. Im Motorrad-Rennsport der 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahre war die technische Entwicklung deutlich anders strukturiert als heute. Die Ideen für ein Fahrzeugkonzept entstammten meist einer einzelnen Person, oder sagen wir einiger weniger Spezialisten.



Ab Mitte der 1970er Jahre wurde die Suzuki RG500 in der Königs-Klasse zum Maß der Dinge


Was war in den vergangenen Jahren nach Phil Reads 500er Weltmeisterschaft 1973 und 1974 mit dem MV Vier-Zylinder-Reihenmotor passiert? Zweitakter der Marken Yamaha und Suzuki beherrschten die 350er- und 500er-Klasse. Aber auch die Erfolge
von KÖNIG mit dem unvergessenen Kim Newcombe in der 500er WM waren beachtlich. Diese Motorräder waren im Verhältnis zur MV sehr leicht und hatten einen entscheidenden Vorteil: Sie waren mittlerweile trotz Literleistungen von weit über 200 PS wirklich standfest und waren nun auf Grund des niedrigen Schwerpunktes (Zweitakter haben nun mal keine schweren Ventiltriebe mit zwei Nockenwellen, 16 Ventilen nebst Zahnradkaskade zum Antrieb derselben unter ihrem mit 20-25 Litern gefüllten Kraftstoffbehältern) deutlich im Vorteil, was die Handlichkeit betraf. Genau das war damals das Problem der Viertakt-Reihen-Vier-Zylinder-MVs. Das früher so homogene Fahrverhalten der MVs blieb im wahrsten Sinne des Wortes auf der Strecke! Obwohl Leistung in der letzten Entwicklungsstufe (ca.110 PS bei 14.500 1/min =220 PS/L) wirklich vorhanden war – aber eben auch nicht mehr standfest.
Guter Rat war teuer und ist meist selten. Sollte man einen Two-Stroker bauen? Damit hatte man aber überhaupt keine Erfahrung und eine Entwicklung hätte Jahre in Anspruch genommen. Außerdem hätten sowohl die Mitarbeiter in der Rennabteilung als auch die vielen Fans der Marke dies wohl als Hochverrat empfunden. Erste Anmerkung: Arturo Magni behauptete Anfang der 1970er Jahre: "Ein Zweitakter werde niemals eine 500er Weltmeisterschaft gewinnen". Er sollte sich täuschen! Zweite Anmerkung: Interessant ist in dieser Beziehung, dass Cagiva Ende 1979 mit einem GP 500 ccm Vier-Zylinder-Zwei-Takt-Reihenmotor und vier horizontalen Drehschiebern experimentierte. Der Vater von Valentino, Graciano Rossi, führte Fahrversuche auf dem Autodromo Santa Monica (Misano) durch. Viele ehemalige Mitarbeiter aus der MV Rennabteilung waren an diesem Projekt beteiligt.



MV Agusta 500 Vierzylinder-Werksmaschine.
"Ago" als Gastfahrer im Team Obsolete in Daytona Beach


Neue Ideen mussten her. Und die kamen in Person von Ingenieur Dr. Bocchi. Dieser machte aber zunächst einen Fehler, der auch heutzutage im Rennsport nur allzuoft begangen wird. Er bekämpfte die Symptome, nicht aber die Ursache. Neue Fahrgestelle wurden in Rekordzeit gebaut, getestet und genauso schnell wieder verworfen. Man denke nur an den "Monocross"-Rahmen von 1975, der zwar sehr fortschrittlich war, das Fahrverhalten aber eher verschlechterte denn verbesserte. Das Konzept der ruhmreichen MV-Vier-Zylinder-Doppelschleifen-Stahlrohrrahmen in Verbindung mit dem Reihenmotor war ausgereizt und damit nicht mehr konkurrenzfähig.
Dottore Bocchi machte dann das einzig Richtige: Er entwickelte einen komplett neuen Motor in Kombination mit einem neu designten Gitterrohrrahmen. Bocchi ist zu dem Zeitpunkt kein unbeschriebenes Blatt in der langen Tradition italienischer Vier-Takt-Motorenbaukunst. Er erlernte sein Handwerk bei keinem geringeren als Enzo Ferrari in Maranello. Dort war er unter Leitung des ebenso genialen wie temperamentvollen Mauro Forghieri maßgeblich an Entwicklung und Bau des Zwölf-Zylinder-Motors FERRARI-312 B (B = Boxer bzw. Pseudoboxer) beteiligt. Die Bezeichnung Boxermotor ist hier aber etwas irreführend, doch dazu später mehr. Für Automobilinteressierte hier jedoch die für einen Saugmotor beeindruckenden Leistungsdaten:
Bauart: 180°V-12-Zylinder
Gaswechsel: 24 Ventile/je Zylinder-Bank
zwei obenliegende Nockenwellen
Bohrung x Hub: 78,5 x 51,5 mm
Leistung: 460 PS / 12.500 1/min 153 PS/L
Hubraum: 2990 ccm (entspricht der Formel für Saugmotore 1975)
Einsatz: Formel 1
Fahrer: Niki Lauda

Genau auf diesen Motor besann sich Bocchi nun bei MV Agusta: Einen für die damalige Zeit ultra-kurzhubig ausgelegten wassergekühlten 180°-V-Vier-Motor mit insgesamt vier zahnradgetriebenen obenliegenden Nockenwellen.



V-Motor ist somit die richtige Bezeichnung, da die beiden gegenüberliegenden Pleuel/Kolben von einem gemeinsamen Hubzapfen angelenkt werden. Der Motor baut dadurch sehr schmal. Beim Boxermotor wirkt dagegen jedes Pleuel auf einen eigenen, um 180° versetzten Hubzapfen. Ein echter Vier-Zylinder-Boxermotor ist so das phantastische GL-1000-K0-Triebwerk der Honda Gold Wing von 1974.



In der Ausführung besticht der Motor, wie immer bei den MV-Rennmotoren, mit einem für Sandgussformteile sehr feinen Finish. Alle Motordeckel und die Ölwanne scheinen aus einer speziellen Magnesiumlegierung gefertigt zu sein. Das eigentliche Kurbelgehäuse mit integrierten Zylindern und die Zylinderköpfe sind jedoch aus Aluminiumguss. Prototypenstadium eben. Auffällig auch die vier Dell`Orto-Vergaser in Fallstromanordnung mit einem Venturi Ø von 33 Millimeter, die speziell für diesen Motor vom italienischen Vergaserhersteller angefertigt worden sind. Man beachte die nahezu waagerecht liegenden Schwimmerkammern. Diese Anordnung wurde nur möglich durch den für die Zeit extrem engen Ventilwinkel von 2 x 12 Grad. Die infolge steiler Ein- und Auslasskanäle langen Ventilschäfte enden direkt unter den korrespondierenden Tassenstößeln. So ließ sich ein kompakter Brennraum realisieren. Apfelbeck lässt grüßen!
Gezündet wurde mit einer kontaktlosen Zündung aus dem Hause Dansi, die auf der rechten Motorseite angeordnet war und mit halber Kurbelwellendrehzahl lief. Auf der linken Seite saß die Trockenkupplung, die das unter dem Kurbelgehäuse positionierte Zweiwellenkassettengetriebe in Rotation versetzte. Den sekundären Endantrieb erledigte eine Rollenkette. Der Motor war als sogenannter "Stressed Member" mittragend in die Struktur des Gitterrohrrahmens integriert. Als Einbaulage des Motors bot sich aufgrund der Kettenflucht zum Hinterrad der Längseinbau an (d.h. Kurbelwelle 90 Grad gedreht zur Fahrzeuglängsachse).
Um die Positionierung des Motors entwickelte sich im Rennstall allerdings ein heftiger Streit. Arturo Magni plädierte für eine Montage nach BMW-Art. Dies hätte aber - sollte der Sekundärtrieb über Ketten bewerkstelligt werden - eine Leistung fressende Kraftflussumlenkung in Form eines Kegelradgetriebes notwendig gemacht. Oder dachte Arturo Magni gar an einen Kardanantrieb zum Hinterrad? Dieser hätte dann einen 90-Grad-Winkeltrieb am Hinterrad erfordert.
Waren die schlechten Erfahrungen der Formel-750 Maschine der 200 Meilen von Imola 1972 schon in Vergessenheit geraten? MV-Werksfahrer Alberto Pagani konnte sich dort im entscheidenden Zeittraining nicht für das Rennen qualifizieren. Giacomo Agostini hielt sich im Rennen zwar zunächst einige Zeit auf Platz 2 hinter Bruno Spaggari auf der Königswellen-Ducati, gab dann aber offiziell wegen Zündungsschaden auf. Der wahre Grund war aber wohl die Unfahrbarkeit des auf Basis der MV Agusta 750 S gebaute Rennmotorrads, das zwar im Straßentrimm einen zügigen Fahrstil erlaubte, aber von einem echten Racer Lichtjahre entfernt war. Wolfgang Gruber bezeichnete in seinem Buch: Formel 750 "Die Klasse der Asse" die MV dann auch sehr abfällig als "Schraubendampfer". Der wahre Grund für die Aufgabe ist eher auf die heftigen Kardanreaktionen und in deren Folge mangelndem Speed zurückzuführen. Rocky Agusta, Sohn von Conte Corrado, leitete die Einsätze der Formel 750, agierte aber nicht mit glücklicher Hand. Wäre sein Onkel Domenico zu diesem Zeitpunkt noch am Leben gewesen, er hätte mit Sicherheit einen seiner berüchtigten Tobsuchtsanfälle bekommen! Dazu ist anzumerken, dass die Formel-750-Motorräder laut Definition des Reglements der F.I.M./A.M.A. der sogenannten "Transatlantischen Formel" auf serienbasierten Motorrädern aufgebaut werden mussten. MV Agusta hielt sich an das Reglement – wie andere Hersteller auch. Als da waren: Norton (Commando), Ducati (750 S), Suzuki (GT 750 – der "Wasserbüffel"), Kawasaki (H2), BSA-Triumph (Rocket/Trident) - um nur die wichtigsten zu nennen. Gewinnen konnte das Frühjahrs-Rennen
1972 Paul Smart, ein sensationeller Erfolg, der für ihn und vor allem für Ducati in die Geschichte einging.


"200-Meilen-Rennen von Imola" 1972


Bruno Spaggiari # 9 und Paul Smart # 16
(Foto: Ducati)


Doch nun zurück zum 500 ccm-GP-Motor, ich schweife vom Thema ab,
das bemängelte zu meiner Schulzeit schon meine Deutschlehrerin.
Obwohl die Formel 750 eine hochinteressante Geschichte ist...
Vielleicht im nächsten Rückblick!




Einiges am neu entwickelten MV-Halblitermotor schien leistungsfördernd zu sein.
Bauart:

  1. Enger Ventilwinkel ergibt kompakte Brennräume, dadurch eine hohe Verdichtung möglich

  1. Effizienter Massenausgleich des Kurbeltriebs

  1. Sehr niedriger Schwerpunkt des Motorrades

  1. Motor tragend in die Rahmenstruktur integriert

  1. Schneller Motorwechsel möglich, Rahmen unten offen

Wasserkühlung:

  1. konstante Leistung über die Renndistanz bei gleichbleibender Motortemperatur

  1. Enge Kolbeneinbauspiele für gute Abdichtung im Zylinder

  1. Nur einen Verdichtungs- und Ölabstreifring zur Reduzierung der Verlustreibleistung

Es gibt aber natürlich auch Nachteile der Konstruktion:

  1. Höheres Eigengewicht des Motors durch die Peripherie der Wasserkühlung: Kühler, Wasserpumpe usw.
     

  2. Einige Bauteile sind doppelt vorhanden, wie vier Nockenwellen und deren Antriebe

Der Motor lief bald auf dem Prüfstand und er entwickelte glaubhafte 110 PS in der ersten Ausführung. Diese sollte in einer geplanten zweiten Version mit einer mechanischen Bosch-Einspritzanlage auf ca.130 PS gesteigert werden. Was ich persönlich für unrealistisch halte, denn die mechanische Vier- Stempel-Hochdruckpumpe der Saugrohreinspritzung, die nötig war, um den hohen hydraulischen Zerstäubungsdruck aufzubauen, hatte damals noch eine sehr hohe Leistungsaufnahme und somit einen verhältnismäßig schlechten Wirkungsgrad.
Helmut Fath testete mit Paul Smetana Ende der 1960er Jahre ein ähnliches System unter der Leitung von Dr. Peter Kuhn in seiner Vier-Zylinder "URS" (URS waren die ersten drei Buchstaben seines Heimatortes "Ursenbach" im Odenwald), rüstete aber nach vielen Problemen auf japanische Keihin-Vergaser um.
Soweit sollte es aber bei MV gar nicht mehr kommen, denn die F.I.M. verschärfte Mitte des Jahres 1976 die Geräuschvorschriften in der Motorrad-WM, und MV Agusta stellte das Projekt ein. Eine weitere Dämpfung der Abgasanlage war nicht ohne erhebliche Leistungsreduzierung vertretbar. So wanderte der Motor ohne jemals eine Testfahrt, geschweige denn ein Rennen bestritten zu haben, nicht einmal ins Werks-Museum, sondern verschwand irgendwo zwischen Gallerate und Mailand in einem Holzverschlag und geriet in Vergessenheit.
Das war´s also für die Rennabteilung. MV Agusta Reparto Corse ist Geschichte! GP-Vier-Takt Rennmotorräder der 500er Klasse sind Geschichte!



Honda NR 500
(Foto: Werk)


Den einzigen ernsthaften Versuch einen 500-ccm-Vier-Takter auf die Rennpisten der Welt zurückzubringen, startete Honda 1979 mit der NR 500,  ein V4-Renntriebwerk mit Ovalkolben - und scheiterte kläglich. Es wurden Millionen Yen in die Entwicklung versenkt, um festzustellen, dass mit der Drei-Zylinder-Zwei-Takt-Rennmaschine  NS 500 unter Freddie Spencer der lang ersehnte 500er-Titel 1983 für Honda relativ leicht zu erkämpfen war.


Robert Iannucci erhielt 1986 den Zuschlag für
einige komplette Drei- und Vier-Zylinder-Rennmaschinen
und für den Pseudoboxer



Robert "Rob" Iannucci







Star-Fahrer im "Team Obsolet"
Giacomo Agostini und Jim Redman


1986 geschah in Italien aber noch einmal etwas eigentlich Unvorstellbares. Einige erinnern sich vielleicht noch an die große Verkaufsanzeige in der Zeitschrift "Das MOTORRAD". Die Werksmaschinen aus der MV-Agusta-Rennabteilung sollten versteigert werden! Der New Yorker Rechtsanwalt Robert Iannucci, motorradverrückt und Besitzer des Team Obsolete, erhielt den Zuschlag für einige komplette Drei- und Vier-Zylinder-Rennmaschinen und eben auch für den Pseudoboxer mit dem liegenden Vier-Zylinder aus besagtem Holzverschlag. Ob der MV-Boxer jedoch jemals in einem fahrtüchtigen Rennmotorrad zu bestaunen sein wird, steht in den Sternen, und Rob Iannucci weiß es selbst am aller wenigsten.


Die Vision

 

EICMA Milano 2012: Franz Josef Schermer, Winni Scheibe, Waldemar Schwarz, Martin Kott, Harald Widerroder, Utz Raabe, Harald Groß und Georg Irrgang stehen, nein sie knien, weinend vor der neuen, soeben von Valentino Rossi enthüllten und auf einer Drehscheibe stehenden, langsam rotierenden, angestrahlt von zig Energiesparleuchten MV Agusta V 588 VELOCE.

Dahinter auf einer Handballfeld großen Videowand (LED-Technik) die technischen Daten:
Liegend, längs eingebauter 180 Grad V 4 Motor Saugmotor, wassergekühlt, Kühler oberhalb der vorderen Zylindereinheit

Verdichtung 12:1

Hubraum 588 ccm

Leistung 139,8 PS bei 12.500 1/min

Max. Drehmoment 73 Nm bei 9.250 1/min

vier radial angeordnete Ventile

Tassenstössel

zwei obenliegende zahnradgetriebene Nockenwellen pro Zylinderkopf

Trockensumpf-Schmierung

Magneti-Marelli-Einspritzanlage, zwei G-Kats, 18g/100km CO2

Trockenkupplung

6-Gang Kassetten Getriebe

Kettenantrieb

Gesamtgewicht trocken 135 kg

Fahrfertig 169 kg

Gitterrohrrahmen/Motor tragend integriert

Goldfarbene, geschmiedete Aluminiumräder im Dreispeichen Design

Reifen-Dimension vorne: 110/65 Dunlop Qualyfier MK VIII R7 CT

Reifen-Dimension hinten: 170/60 DUNLOP Qualyfier MK XX R5 CT

Die Form der natürlich Rosso/Argento lackierten Maschine besticht und polarisiert wie damals die Präsentation der F4. Manche sprechen von Retro-Look. Begriffe wie Delphin-Verkleidung oder Megaphone fallen. Tatsächlich wirkt das Motorrad unglaublich zierlich.
Dem Racevirus verfallenem Betrachter stechen sofort einige Details besonders ins Auge. Der runde Scheinwerfer wird durch eine gelb lackierte und mittels zweier Schnellverschlüsse fixierten, ovalen Abdeckung aus Carbonfaser abgedeckt. Aus dem gleichen Werkstoff sind Tank, Höcker und die zweiteilige Verkleidung gefertigt. Alle Beleuchtungseinrichtungen sind so in den "Shape" integriert, dass nichts herausragt. Die Solositzbank verbirgt hinter sich den Tank der Trockensumpfschmierung, die beiden oberen Rahmenrohre werden als Vor- und Rücklaufleitung genutzt! Die Batterie befindet sich schwerpunktgünstig hinter dem Motor unterhalb der über Excenter einstellbaren konventionellen Zweiarmschwinge. FORCELLA ITALIA steht erhaben auf der neuentwickelten Teleskopgabel mit Titan-Nitrit beschichteten Standrohren. Neben dem mit einem Monza-Cap abgedeckten Öleinfüllstutzen im Höcker positioniert sich ein kleines Handrad zur gemeinsamen hydraulischen Einstellung der Federvorspannung der filigranen Federbeine aus dem Hause CERIANI. Druck und Zugstufe lassen sich über kleine Stellschrauben direkt an den Federbeinen justieren.
Vierkolben.-Bremszangen der Marke LOCKHEED umschließen die beiden Silizium beschichteten kreisrunden innenbelüfteten Carbon-Bremsscheiben der Marke "Elaborazione GIOVANNI-MAGNI".
Das Racing-ABS am Vorder- und Hinterrad gehört zur Serienausstattung.
Ein großer Drehzahlmesser mit schwarzem Zifferblatt, weißen Zahlen von 4.000 bis 14.000 und rotem Zeiger dominiert das spartanische Cockpit, das ansonsten nur noch ein kombiniertes Wasser-/Öltemperatur-Instrument beherbergt. Das ist echter italienischer Race-Spirit. Mehr braucht kein Mensch! Rundenzeiten werden vom guten Kumpel oder der Ehefrau in der Boxengasse genommen.
Und beim Stichwort Boxengasse komme ich zum ernsten Teil der Neuvorstellung, das Zauberwort lautet:

KIT per TRANZFORMATIONE

Die schon in der Straßenausführung aus Edelstahl gefertigten, gefälligen Schalldämpfer werden gegen eine Vier-in-vier-Megaphon-Anlage aus 0,8 Millimeter Titanblech (hydroformed, einteilig je Dämpfer) ersetzt, je zwei Rohre enden in etwa in Höhe der oberen und unteren Stoßdämpferbefestigungsaugen, auch die MARELLI-Einspritzbrücken wandern auf die Werkbank. Sie werden ersetzt durch eine offene "pro Jet" Racing-Einspritzanlage. Die im Tank integrierte Airbox lässt sich samt dem nun überflüssigen Kabelbaum mit wenigen Handgriffen demontieren. So verschwindet das nervige Gehacke beim Gasanlegen und die besonders bei Rennstrecken-Betrieb unangenehmen Lastwechselreaktionen. Ein vierfach Bowdenzug Gasgriff (jawoll – TOMMASELLI steht drauf) ersetzt den "Drive by wire"-Lautstärkeregler.
Eine Carbonschatulle mit der notwendigen Software liegt dem Kit bei. Fast schon selbstverständlich gehören ein echtes Racing-Getriebe und ausreichend Ritzel und Kettenräder sowie eine ultraleichte Rennkette zum Kit.
Auch ein Satz DUNLOP-Rennslicks, aufgezogen auf Magnesiumfelgen incl. Reifenwärmern, gehört zum Lieferumfang. Alle Kit-Teile sind in einer stabilen Aluminiumbox für den Transport zur Rennstrecke sicher untergebracht. Der Kit ist im Kaufpreis erhalten.
Ich persönlich würde mir solch eine neue MV sofort ohne nachzudenken bestellen, denn so sehe ich ein gelungenes Nischenprodukt, das sich zwar nicht in großen Stückzahlen verkaufen lässt, aber in Kleinserie, natürlich bei entsprechendem Preis kostendeckend zu produzieren wäre. Und von meiner Sorte gibt es weltweit einige unheilbar kranke Kradfahrer!
Es wäre sogar denkbar, dass Jonas Folger in der Klasse 600 Supersport den WM-Titel ins Visier nimmt.
Der Preis: geschätzte 64.000 Euro. Aber das Leben ist so kurz wie die Hunaudie`res-Gerade in Le Mans!!


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